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Das Herz der Burg

Verblüfft sah Egwene sich um. Der Raum, fast schon ein Saal bei dieser Größe, war überall von einer nur hauchdünnen Staubschicht überzogen. Sie bezweifelte dennoch, dass seit hunderten Jahren auch nur ein einziger Mensch diesen Ort aufgesucht hatte. Drei Wände waren weiß und die vierte zeigte mittig offenbar eine Karte von Tar Valon und Umgebung, sie hatte genug Karten gesehen, um da sicher zu sein, die Insel war unverkennbar, doch das war es nicht, was ihren Blick sofort fesselte. In der Mitte des Raumes befand sich ein kugelartiges Gebilde, das wie ein einziger gewachsener Kristall wirkte, obwohl es fast zwei Spannen hoch und ebenso breit war. So etwas hatte sie noch nie gesehen, es sich nicht einmal vorgestellt. Komplexe Gewebe aus einem durchsichtigen Material bildeten eine seltsam anmutige Skulptur mit zahlreichen ellenlangen und sehr spitzen Stacheln, die regelmäßig in alle möglichen Richtungen zeigten, während die feiner werdenden Strukturen zur Mitte hin schließlich nicht mehr erkennbar waren, da sie hinter den übrigen im Inneren verschwanden. Dabei lagen keine zwei Stacheln auf einer Höhe oder auch nur auf einer Linie, alles wirkte irgendwie rund und auf eine Art regelmäßig, wie sie es nie zuvor gesehen hatte. Neugierig blickte sie unter das Ter'angreal - es musste ein Ter'angreal sein - um festzustellen, wie es befestigt war, und staunte erneut: Nur eine einzige Spitze schien den Boden zu berühren, zu berühren wohlgemerkt, sie war auf keine erkennbare Art mit dem Boden verbunden! Das konnte sie trotz des Staubes klar erkennen, denn direkt unter dem beeindruckenden Gebilde verschwand die dünne Staubschicht nach und nach fast völlig. Sie hatte andere Ter'angreale gesehen, die der Schwerkraft zu trotzen schienen, im Stein von Tear und in Rhuidean, aber dieses stellte alles Übrige bei Weitem in den Schatten.

Sie erschrak und rief sich streng zur Ordnung, als sie bemerkte, dass sie unbewusst nähergetreten war und ihre Hand erhoben hatte, um eine der Stacheln zu berühren, kaum das sie sich wieder aufgerichtet hatte. Manche Ter'angreale hatten es an sich, dass man sie berühren wollte, aber manche wurden auch durch bloße Berührung ausgelöst und das konnte leicht gefährlich werden. Sie spürte förmlich, wie der Ter'angreal nach ihr rief, sie aufforderte, ihn zu berühren und es kostete sie Mühe, ein paar Schritte zurückzutreten. Sie griff nach Saidar, wollte herausfinden, ob in der Nähe Gewebe sichtbar wären, aber hielt die Eine Macht vorerst nur fest. Das vom Kristall ausgehende Verlangen ließ nicht nach, schien eher noch stärker zu werden. Es gab ein Gewebe, aber es war viel zu fein, um Einzelheiten zu erkennen, wenn sie so wenig Saidar hielt. Sie nahm etwas mehr in sich auf und wurde fast überwältigt von dem Drang, auf den Kristall zuzulaufen, sofort und ohne Rücksicht auf die tödlichen Konsequenzen der zahlreichen Stacheln, wenn sie es tatsächlich täte. Es kostete sie erhebliche Mühe, aber sie schaffte es, Saidar wieder loszulassen, bevor sie mehr als einen Schritt getan hatte.

Sofort ebbte das Verlangen ab, bis es zum vagen Eindruck wurde, der Kristall sei interessant, so wie sie es gleich zu Beginn verspürt hatte. Sie schauderte, als sie erkannte, wie knapp sie dem sicheren Tod entronnen war. Hätte sie mehr als nur einen kleinen Hauch der Macht in sich aufgenommen, wäre sie jetzt ohne Zweifel bereits tot, denn mehr Saidar schien den Effekt zu verstärken. Gerne hätte sie herausbekommen, wie dieses Gewebe beschaffen war, das durch seine Intensität verhindert hatte, mehr als seine bloße Anwesenheit zu erkennen, aber es war zu gefährlich, es alleine noch einmal zu versuchen. Sie bezweifelte nicht, dass es sich um eine Art Schutzgewebe handelte, das Missbrauch verhindern sollte, der eigentliche Zweck dieses Ter'angreals war sicherlich ein anderer, auch wenn sie keine Vorstellung davon hatte, welcher das sein mochte.

Mit Mühe wandte sie den Blick ab und trat auf die Karte zu, mehr um dem Einfluss des Kristalls zu entgehen, als aus wirklichem Interesse, sie hatte genügend Karten Tar Valons gesehen, das es für ein Leben reichte, auch wenn diese hier mindestens vier Spannen hoch und sechs breit war. Sie konnte die Beschriftungen nicht lesen, erkannte darin aber die Alte Sprache. Sicher wären ihr die Namen der umgebenden Dörfer und der Hauptstraßen sowieso fremd, diese Karte musste aus den Anfangstagen der Weißen Burg stammen, Egwene glaubte nicht, dass jemand außer ihr seit den Gründungstagen der Burg hier gewesen war. Ihr fiel ein grauer Ring auf, der sich fast um die ganze Stadt zog - nur die Häfen im Norden und Süden waren nicht eingeschlossen - mit der Burg als Zentrum, konnte sich aber keinen Reim darauf machen, was er darstellen sollte. Als sie ihn mit den Fingern nachfuhr war sie überrascht, wie glatt die Oberfläche war. Die ganze Karte schien weniger gemalt als vielmehr in einem Stück gegossen worden zu sein.

Ihre Hand streifte quer über die Stadt und glitt dabei auch über den kleinen roten Punkt, welcher die Weiße Burg darstellte. Sie spürte dort eine leichte Erhebung, aber bevor sie es wirklich registriert hatte, erklang hinter ihr ein Geräusch, wie sie es noch nie gehört hatte, eine Art hohes Zischen.

Sie fuhr herum und erhaschte für den Bruchteil einer Sekunde einen Blick auf etwas golden glitzerndes, bevor die gegenüberliegende Wand wieder so weiß erschien, wie zuvor. Sie legte ihren Finger erneut auf den roten Punkt, der die Burg darstellte. Offenbar war hier eine Art Mechanismus verborgen, denn wieder erklang hinter ihr dieses Zischen. Sie richtete ihren Blick auf die gegenüberliegende Wand, welche zum Teil vom riesigen Kristall verdeckt wurde und drückte den Punkt nochmal, wieder und wieder. Obwohl kein Riss in der gegenüberliegenden Wand zu sehen war, glitten jedes Mal zwei Teile von ihr blitzschnell zu den Seiten davon, sobald sie drückte, und gaben ganz kurz den Blick auf Gegenstände frei, die Speere zu sein schienen, Helme, Rüstungen, selbst Stiefel und vieles weitere, alles golden glänzend wie neu. Jedes Mal kehrten die Wände durch die Eigenarten der Welt der Träume rasch wieder in den Ausgangszustand zurück, aber fasziniert, wie sie war, drückte sie immer weiter. Der Ter'angreal versperrte ihr zwar teilweise die Sicht, aber wenn sie ihren Stand veränderte, schien sie jedes Mal etwas Neues zu entdecken. Sie sah sogar Bücher! Bücher aus dem Zeitalter der Legenden, davon war sie überzeugt. Sie musste unbedingt so schnell wie möglich herausfinden, wie man in diesen Raum gelangte!

Sie war sicher, sich noch irgendwo in der Weißen Burg zu befinden, denn schließlich hatte sie sie fest in ihren Gedanken gehalten, während sie etwas suchte, das ihr helfen konnte, die Burg endgültig zu gewinnen und sie dann auch zu verteidigen. Es würde ihr wenig helfen, hatte sie überlegt, wenn sie etwas Nützliches fand, das sich außerhalb ihrer Reichweite befände.

Egwene hatte schließlich eingesehen, dass es einfach nicht schnell genug voran ging. An allen Enden stellten sich ihr Widerstände in den Weg und ihre Fortschritte konnte sie an einer Hand abzählen, sie musste ihre Talente effektiver einsetzen, das war unumgänglich. Und so hatte sie beschlossen, die Notwendigkeit zum ersten Mal bewusst einzusetzen, hatte sich genau überlegt, wo ihre Prioritäten lagen und ihre aktuellen Bedürfnisse. Sie hatte gedacht, dass sie vielleicht in den Räumen einer Schwester landen würde, die eine Schlüsselrolle bei der Wiedervereinigung der Weißen Burg spielen würde. Sie hatte erwartet, in den Kellern der Burg zu landen, vielleicht in einem vergessen Raum mit verstaubten Gegenständen, die die Macht verwendeten, so wie Nynaeve und Elayne damals in Ebou Dar, aber das hier übertraf ihre kühnsten Träume bei Weitem. Ihr letzter Gedanke, bevor sie die Verschiebung gespürt hatte, war gewesen, dass sie die Weiße Burg unbedingt schützen musste, verzweifelt war und sich fragte, ob sie das Herz besäße, das nötig war um die Weiße Burg zu retten, die jetzt ihr Zuhause war. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann glaubte sie nicht wirklich, dass es so war, hatte sie gedacht, und sich gewünscht, ihr Herz wiederzufinden, den unbeschwerten Mut, an den sie sich aus ihrer Kindheit erinnerte. Es war noch immer seltsam, die eigenen Gefühle auf diese Weise zu interpretieren, aber bei den Weisen Frauen der Aiel hatte sie gelernt, dass dies die Seele des Traumwandelns war, denn Gefühle wurden im Tel'aran'rhiod praktisch umgehend Realität. Vielleicht hatte sie nicht ihr Herz gefunden, überlegte sie jetzt, sondern stattdessen sozusagen das Herz der Weißen Burg.

Erst jetzt, als sie sich bewusst umsah, fiel ihr auf, was diesen Raum von allen anderen unterschied, die sie bis jetzt gesehen hatte: Es gab keine Tür! Vermutlich gab es einen verborgenen Mechanismus, wie den mit der Wand, der den Zutritt ermöglichte. Ihr war bewusst, dass ihr vielleicht langsam die Zeit ausging, da man in der Welt der Träume nie sicher sein konnte, wieviel davon verstrich, und sie schon eine Weile unterwegs war, aber dennoch musste sie einfach den Zugang entdecken. Sie war zu weit gekommen, um einen weiteren Tag zu verschenken. Also ging sie an der weißen Wand entlang, strich mit ihren Händen darüber und hielt die Augen offen. Es dauerte nicht lange und ihr fielen zwei runde Punkte auf, die eine Handspanne übereinander mitten auf der Wand lagen, die sich der Karte genau gegenüber befand. Einer war rot und andere gelb. Von der anderen Seite des Kristalls (in ihren Gedanken verwendete sie diesen Namen für das Ter'angreal, er schien zu passen) aus hatte sie sie nicht sehen können, aber jetzt fielen sie an der schneeweißen Wand geradezu ins Auge. Beide waren genauso groß wie der rote Punkt, der die Wände öffnete, hatten also etwa eine Fingerbreite im Durchmesser, aber anders als dieser lagen sie noch unterhalb ihrer Brust und nicht über ihrer Kopfhöhe. Sie war in voller Alarmbereitschaft, als sie den unteren Punkt drückte. Auch er war leicht erhöht, wie sie jetzt fühlen konnte, doch der Unterschied zur Wand war zu gering und der Übergang zu fließend, um ihn auch zu sehen. Sie war enttäuscht, als nichts geschah, und drückte den oberen.

Ihr überraschter Blick wandte sich zur Decke, als von dort wieder dieses Zischen ertönte. Für einen Augenblick sah sie über sich ein schwarzes Viereck mit einem hellen Fleck in der Mitte und dann war die Decke wieder so weiß wie zuvor. Sie drückte erneut und diesmal sah sie, wie auch hier eine Art Schiebetür blitzschnell in der Wand verschwand und einen langen Schacht freigab, der bis zur Spitze der Weißen Burg reichen musste. Der kleine helle Fleck in der Mitte des Schachtes musste Tageslicht sein! Da der Schacht immerhin etwa zwei mal zwei Spannen groß war, musste sie sich tief im Keller der Burg befinden, vielleicht sogar unterhalb der Kerker, in denen zur Zeit Leane gefangen saß.

Ihr wurde klar, dass sie den Eingang gefunden hatte, nur, wie kam sie in der echten Welt unbeobachtet und vor allem allein nach ganz oben? Es musste dort einen Zugang geben, den man aktivieren konnte, solange man - so wie sie jetzt - davon wusste.

Obwohl es vielleicht schon Morgen war, schloss sie die Augen und konzentrierte sich auf die Spitze der Burg. Sie spürte die Verschiebung und befand sich an derselben Stelle wieder wie beim letzten Mal. Eine Übung, die sie bei den Traumgängerinnen der Aiel hatte durchführen müssen, was es gewesen, sich an Orte zu begeben, die normalerweise schwer erreichbar waren. Die Aussichtsplattform, die die Spitze der Weißen Burg bildete, war einer der ersten Orte gewesen, die sie damals besucht hatte, daher verschwendete sie keine Zeit damit, die phantastische Aussicht über Tar Valon zu genießen, sondern untersuchte stattdessen die nähere Umgebung.

In dieser Höhe hatte der Turm sich bis auf vielleicht zweihundert Schritte Durchmesser verjüngt, ein Nichts im Vergleich zu seinem Umfang in Bodennähe, aber immer noch beeindruckend. Sieben weiße, langgezogene und an die zehn Schritt hohe Ovale umgaben die Plattform und gaben den Blick nach Außen frei. An ihrer tiefsten Stelle waren sie noch bis zu ihrer Hüfte über dem weißen Boden und oben, genau in der Mitte, ragten schlanke Verstrebungen in hohen Bögen heraus, die zu der breiten Säule im Zentrum hin dicker wurden und dann übergangslos mit ihr verschmolzen. Es war nicht zu erkennen, wie man üblicherweise von innerhalb der Burg hier heraus gelangte, denn der Boden bildete eine einzige, zusammenhängende Fläche, aber sie verschob die Lösung dieses Rätsels auf später. Der Boden selbst war von einer feinen grauen Maserung durchzogen, was ihr vorher nicht aufgefallen war. Sie bückte sich und fuhr mit ihrer Hand eine der Linien nach. Eigentlich hätte sie überrascht sein sollen, dass der Boden sich genauso anfühlte, wie die Wände beim Kristall, aber irgendwie hätte es sie auch überrascht, wenn es anders gewesen wäre. Zwar war der Boden seit etwa dreitausend Jahren der Witterung ausgesetzt gewesen, aber er war eben mit Hilfe der Macht geschaffen worden.

Sie rief sich zur Ordnung und ignorierte den Schnee, der plötzlich auf dem Boden lag. So interessant die eigentliche Plattform auch war, Zeit war kostbar und sie musste noch immer den Eingang finden. Er sollte irgendwo in der Mitte sein, überlegte Egwene und betrachtete nachdenklich die mächtige weiße Säule, die sich in der Mitte der Plattform erhob und zu der die sieben bogenförmigen Verstrebungen, die von der Brüstung her kamen, sich vereinigten. Natürlich! Die Lösung war so einfach, dass sie sich tatsächlich auf die Stirn schlug, als sie darauf kam: Sie war noch garnicht auf der eigentlichen Spitze des Turmes, es ging noch weiter hinauf! Schnell lief sie auf die Säule zu und begann, sie mit ihren Händen nach Erhebungen abzusuchen. Sie war fast einmal herum, bevor sie sich eine Närrin schalt und stattdessen langsam nach oben schwebte: Wenn es hier einen Eingang gab, dann ganz oben, wo man ihn nicht sah!

Während sie langsam die fast zehn Spannen nach oben schwebte - die Säule war noch einmal mindestens doppelt so hoch wie die Umrandung - überlegte sie, wie sie wohl in der wirklichen Welt hinaufkommen könnte. Sicher könnte eine der stärkeren Schwestern sie dort hinaufheben, aber dann wüsste sie Bescheid und das hielt Egwene für keine gute Idee. Allerdings bestand sowieso nur eine geringe Chance, dass sie allein hierherkommen konnte, schließlich wurde sie praktisch auf Schritt und Tritt bewacht. Wie es aussah, könnte man auch mit einem Enterhaken hochkommen, eine Leiter unbemerkt hier herauf zu bringen war vermutlich ein Ding der Unmöglichkeit.

Wie sich herausstellte, gab es innen eine Kante, glatt abgerundet, schmucklos und kaum eine Fingerbreite dick, ideal für einen Haken. Die sieben von außen kommenden Verstrebungen waren lediglich eine Attrappe und von dieser Seite sehr dünn, um ein kleines Rund zu formen. Aufregung über diese erstaunliche Entdeckung erfüllte sie, als sie über den Rand schwebte und die Enden der Verstrebungen überflog. Sie umgaben als Wände einen kreisrunden schmutzigen Tümpel, der sich mangels Abfluss hier gebildet hatte. Dennoch zeigte die Innenseite keinerlei Verschmutzungen, anscheinend blieb Schmutz hier nicht haften. Wie alles Veränderliche, dem man in Tel'aran'rhiod begegnete, zeigte der Tümpel wechselnde Wasserstände und manchmal auch Eis, wenn er auch nie ganz auszutrocknen schien, sondern eher zu schmutzigem Matsch wurde. Sie schwebte näher heran, drehte sich und schon nach wenigen Augenblicken sah sie zwei kleine gelbe Punkte, die fast wie Zwillinge der anderen beim Kristall wirkten. Ab und zu verschwanden sie unter der Wasseroberfläche, aber da sie nahe am oberen Ende der Brüstung lagen, waren sie meist deutlich zu sehen. Und über ihnen stand auf dem klaren Weiß ein Schriftzug in schwarz glänzender Schrift.

Sie konnte die Alte Sprache zwar erkennen, aber nicht lesen und es gab wohl keinen Weg, den Text zu kopieren und aus der Welt der Träume mitzunehmen. Das einzige, was sich hier verändern konnte, war sie selbst...

Ihr kam ein so absurder Gedanke, dass sie es kaum fassen konnte, aber es müsste funktionieren.

Sie verließ die Welt der Träume wenig später mit einer exakten Kopie des Textes und einem Lächeln.

Das Lächeln verging, sobald sie wieder in ihrem Körper war. Zum einen kehrten jetzt die Schmerzen zurück, die hauptsächlich Elaida ihr während ihres allabendlichen Dienstes zugefügt hatte, ihre Kehrseite schien in Flammen zu stehen. Zum anderen - und das war weit schlimmer - wurde sie von einer Schwester, welche die Macht ergriffen hatte, kräftig an den Schultern geschüttelt. Sofort schlug sie die Augen auf und sagte "Ich bin wach."

"Was ist passiert, Kind?" fragte Pevara streng. "Ich konnte Dich nicht wecken."

Ausgerechnet Pevara! Innerlich stöhnte sie. Pevara war eine Sitzende und sie war ihr gelegentlich kräftig auf die Füße getreten oder sogar mit ihr zusammengeprallt, weil sie grundsätzlich keinen Schwestern im Korridor aus dem Weg ging. Zwar hatte die Rote ihr nie einen zweiten Blick gegönnt, aber sicherlich war ihr bewusst, welche Novizin sich so ungebührlich aufgeführt hatte. Sie fragte sich, warum sie heute hier war, Sitzende wurden nie zur Bewachung eingeteilt. "Das ist normal, Tochter.“ erklärte sie ruhig, „Wenn ich wahrträume, bin ich mir meines Körpers nur vage bewusst. Ich habe wohl aus Versehen länger darin verweilt, als ich erwartet hatte, die Zeit vergeht dann anders." Dass sie eine Träumerin war, war in der Burg bekannt, dass sie außerdem die Welt der Träume auch betreten konnte, braucht niemand hier zu erfahren. Und wahr war das, was sie geträumt hatte, mit Sicherheit gewesen, also log sie auch nicht. Sie hatte sonst immer darauf geachtet, den Kontakt zu ihrem Körper nicht völlig zu vernachlässigen, aber die Aufregung über ihre Entdeckung hatte ausgerechnet heute jeden Gedanken daran vertrieben.

"Du blutest ja, Kind! Zeig' her." Pevara griff vorsichtig nach ihrem Arm. Verdammt! Unter der Bettdecke verborgen, wäre es niemals aufgefallen und es wäre ihr bestimmt auch gelungen, die frischen Wunden beim Umziehen zu verbergen, ihre Bewacherinnen achteten normalerweise kaum auf sie. Nur leider hatte die Aes Sedai in ihrer Sorge die Bettdecke zurückgeworfen und etwas Blut zeigte sich deutlich auf ihrem Ärmel. Da sie einsah, dass sie nichts mehr daran ändern konnte, zog sie resigniert selbst den Ärmel zurück, während Pevara ihre Hand festhielt und Jezrail nähertrat.

"Das sind nur oberflächliche Wunden" meinte Pevara, "aber wie hast Du..." und dann weiteten sich ihre Augen, als sie erkannte, was sie vor sich hatte, und sie verstummte.

"Man kann nichts aus der Welt der Träume mitnehmen" erklärte Egwene ruhiger, als sie sich fühlte, "aber was mit dem eigenen Körper geschieht, bleibt Wirklichkeit. Es schien mir der einzige Weg zu sein, den Text so schnell wie möglich jemandem zu zeigen, der ihn mir übersetzen kann. Kannst Du vielleicht die Alte Sprache lesen, Tochter?"

"Es ist verschmiert" sagte die Aes Sedai in seltsam zurückhaltendem Tonfall und musterte sie, als hätte sie sie noch nie gesehen. In gewisser Weise war das auch der Fall, denn die Rote Sitzende hatte ihr nie nähere Aufmerksamkeit geschenkt. Eigentlich erstaunlich, wenn man es genau betrachtete, immerhin hatte sie die Aes Sedai bei mehreren Gelegenheiten förmlich umgerannt. Bei diesen Gelegenheiten war sie einfach nur erleichtert gewesen, ohne eine Strafe durchzukommen, es war zu viel zu bedenken gewesen, als dass sie bisher weiter darauf geachtet hätte, aber jetzt fragte sie sich nach dem Grund dafür.

Egwene fuhr ohne Zögern mit der linken Hand über die dünnen, frischen Schnitte und die Buchstaben waren wieder deutlich zu erkennen. Die Schmerzen waren im Vergleich zu denen auf ihrer Kehrseite vernachlässigbar gering.

Pevara musterte sie einige Sekunden lang und sie erwiderte den Blick gelassen. Die Sitzende wandte schließlich den Blick wieder ihrem Arm zu und zog ihn zur Seite, damit sie besser lesen konnte. Da die Schrift ihr sowieso nichts sagen würde, musterte Egwene stattdessen weiterhin die Rote Schwester, über die sie so gut wie garnichts außer dem Namen wusste.

Die Lippen der Aes Sedai bewegten sich, aber es war kein Ton zu hören. Sie war kaum überrascht, als Jezrail, die sich ebenfalls neugierig näher herangebeugt hatte, kurz darauf aufkeuchte und zurückwich. Beide Schwestern starrten sie jetzt an, aber Jezrail sah man die Überraschung deutlich an, während Pevara sich gut beherrschte. "Woher hast Du das, Kind?" fragte sie ruhig.

"Sagst Du mir, was da steht, Tochter?" fragte Egwene zurück. "Ich werde es sowieso früher oder später erfahren." fügte sie hinzu und die Sitzende der Roten runzelte die Stirn.

"Das wirst Du vermutlich tatsächlich." gab sie schließlich fast flüsternd zu und fuhr dann etwas lauter fort. "Hier steht:

Bewahre das Herz der Weißen Burg in Deinem eigenen,

Du wirst die letzte sein, wie ich die erste bin.

Sei gewarnt, bald wird der letzte Tag sich neigen,

Möge das Licht Dir scheinen und bleibe stets darin.

Na ja, oder zumindest so ähnlich. Viele Worte der Alten Sprache haben mehrere Bedeutungen, aber die meisten von diesen hier sind recht gut dokumentiert und der Text ist eher schlicht gehalten."

Pevara schüttelte leicht den Kopf und murmelte zu sich selbst "Wer hätte je gedacht, dass so ein junges Mädchen das Herz der Weißen Burg findet? Dass es überhaupt wirklich existiert?" Dann blickte sie mit undeutbarem Blick in ihre Augen. "Es besteht vermutlich keine Chance, dass Du mir sagst, wo Du das herhast, Kind?" fragte sie und klang hoffnungsvoll und resigniert zugleich, obwohl sie keine Miene verzog.

Eine Vielzahl von Möglichkeiten zog durch Egwenes Verstand, während sie eine geeignete Antwort suchte. Bewusst verschob sie die Deutung dieser Worte auf später und konzentrierte sich auf ihre aktuelle Lage, die nach wie vor schwierig war. Es war offensichtlich, dass es unter den Schwestern zumindest Gerüchte über den Ort geben musste, den sie entdeckt hatte. Offenbar wurde er tatsächlich als „Herz der Weißen Burg“ bezeichnet, erstaunlich. Doch bevor sie ein Wort sagen konnte, wandte Pevara sich ihrer Roten Schwester zu: "Kein Wort darüber. Zu niemandem, klar?"

Die Angesprochene nickte hastig und schluckte. Sie hatte offenbar vor Überraschung die Sprache verloren und starrte jetzt wieder auf die Schriftzeichen, die sich blutrot auf ihrem Arm zeigten. Sie war weit davon entfernt, dem Bild einer Aes Sedai gerecht zu werden, wie Egwene am Rande missbilligend feststellte.

"Vielleicht ist eine Heilung eine gute Idee" schlug sie dann so gelassen vor wie sie konnte. Eine Heilung würde die Schrift hoffentlich restlos verschwinden lassen. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, jede Heilung abzulehnen, die ihr angeboten worden wäre, bis sie eine Gelegenheit fände, Leane oder Beonin zu kontaktieren oder die Schrift zu kopieren, aber das war jetzt nicht mehr notwendig. Je eher sie geheilt wurde, desto besser war die Chance, dass niemand sonst die Schriftzeichen auf ihrem Arm entdeckte. Pevara musste das genauso sehen, denn sie legte wortlos ihre Hände an Egwenes Kopf und wob Saidar.

Energisch unterdrückte sie den kalten Schauer, der sie zwangsläufig beim Heilen überlief, fing sich so schnell wie möglich wieder. Die Schnitte auf ihrem Arm waren verschwunden, nur ein paar blutige Linien waren noch zu erkennen. Sie beschloss, ein Risiko einzugehen. Es machte keinen Sinn, zu warten, die Sitzende verfügte über genügend Einfluss, dass sie sie bis zur Spitze bringen konnte, das gab den entscheidenden Ausschlag. "Pevara, es besteht durchaus die Möglichkeit, dass ich Dir zeige, wo das Herz der Burg ist."

Dieselbe Schwester, die sie sonst vielleicht bei der kleinsten Abweichung vom Verhalten einer Novizin getadelt oder zur Herrin der Novizinnen geschickt hätte, ignorierte heute auch die dritte Unverschämtheit in drei Sätzen und hob lediglich eine Braue, während sie etwas zurückwich. Dann reichte sie ihr stumm den Spaltwurzeltee. Egwene fühlte sich aufgeregt - eine Sitzende, die so einflussreich wie Pevara war, musste sie einfach allein zur Spitze des Turmes bringen können - aber ihre äußerliche Gelassenheit war ihre stärkste Waffe und sie hielt eisern daran fest. Sie WAR der Amyrlin-Sitz!

Es war auch hilfreich, dass ihre Schmerzen fort waren. Egwene leerte den Becher, erhob sich und spürte geradezu, wie die Blicke der beiden Roten jeder ihrer Bewegungen folgten. Sie war verblüfft, dass beide kein Wort sagten, konzentrierte sich aber lieber darauf, sich gründlich zu waschen und umzuziehen, als selbst das Wort zu ergreifen. Sobald sie mit dem Anziehen fertig war, ergriff sie Saidar und versuchte, das Blut aus ihrem Nachthemd zu entfernen, aber selbst für diese Kleinigkeit hätte sie wohl eine halbe Stunde gebraucht, wenn Pevara ihr das Nachthemd nicht wortlos mit der Einen Macht abgenommen hätte. Dennoch fiel ihr auf, dass sie mehr Saidar als zu Beginn nach Einnahme des Tranks ergreifen zu können schien. Bildete sie sich das ein?

Nach wenigen Herzschlägen lag das Nachthemd sauber und gefaltet auf dem frisch gemachten Bett und sie verdrängte den Gedanken. Pevara war ausreichend stark, sie hochzuheben, und sehr geschickt in der Anwendung der Macht. Nur wenige konnten die Ströme so komplex teilen, wie die Sitzende der Roten es gerade getan hatte. Egwene hatte Saidar natürlich sofort wieder losgelassen und setzte sich wieder auf ihr Bett, statt wie üblich direkt den Raum zu verlassen. Silviarin würde schon warten und sie wollte gerade heute bestimmt keine Aufmerksamkeit erregen, aber sie bezwang ihre Ungeduld und wartete, äußerlich gelassen, während sie die beiden Schwestern abwechselnd musterte. Es würde nicht lange dauern, bis eine von ihnen - vermutlich Pevara – das Wort ergriffe.

Sie unterdrückte ein Lächeln, als Pevara schon nach wenigen Minuten des Schweigens fragte "Wo ist das Herz der Weißen Burg?" Es war klar zu hören, dass sie ihre Neugier nur mühsam im Zaum hielt, aber es schwang auch noch etwas anderes darin mit, das sie nicht so recht identifizieren konnte.

"Ich sagte, es besteht die Chance, dass ich es Dir zeige, Tochter. Das Herz ist ... etwas unzugänglich. Wir werden einen halben Tag brauchen, um es zu erreichen und zurückzukehren." Es würde vermutlich schneller gehen, aber es könnte einen halben Tag dauern. "Bring ein Seil mit, zehn Spannen lang und mit einem Haken am Ende. Triff mich, wann immer Du es unauffällig einrichten kannst. Und jetzt muss ich los, ich bin schon spät dran." Ohne den Schwestern noch weitere Aufmerksamkeit zu schenken, stand sie auf und verließ mit angemessen ruhigen Schritten ihr Zimmer. Das war zwar etwas albern, sie rannte los, kaum dass sie den Korridor ganz betreten hatte, weil sie so spät dran war, aber es fühlte sich auch irgendwie richtig an.

Diesmal lächelte sie wirklich, wenn auch nur einen Moment lang. Nur selten sah man Aes Sedai rennen, aber viele Novizinnen würden diese Aes Sedai rennen sehen! Es war völlig angemessen, ja, es wurde sogar von ihr erwartet, dass sie rannte, weil Silviarin auf sie wartete. Niemand konnte sie dafür bestrafen. Noch besser: Niemand würde vermutlich bemerken, dass es Egwene al'Vere war, die hier rannte, schließlich war unter Novizinnen und Aufgenommenen bekannt, dass sie niemals rannte, und außerdem verbarg sie etwas ihr Gesicht, indem sie zu Boden blickte. Es stand außer Frage, dass sie gerade heute unauffällig bleiben musste – und was war unauffälliger, als eine Novizin, die es eilig hatte? Es war auch unerwartet angenehm, wieder in schnellem Lauf die Beine zu strecken, wie sie es bei den Aiel andauernd getan hatte. Das Lächeln kehrte zurück und diesmal blieb es. Natürlich hatten die Roten Schwestern den Auftrag, sie nicht aus den Augen zu lassen und sie war schnell! Die weit hallenden Schritte hinter ihr - vermutlich von Jezrail - blieben zurück, lange bevor sie die Tür von Silviarins Arbeitszimmer erreichte. Ausnahmsweise war sie jetzt praktisch allein, aber das war wohl kaum ihre Schuld. Sie klopfte an, energisch und kurz: Tack, Tack, Tack. Da sie keine Schreie und kein Stöhnen von drinnen hörte, war Alviarin vermutlich schon wieder fort.

Statt des gewohnten, energischen "Herein", ging praktisch sofort die Tür auf und die Herrin der Novizinnen stand vor ihr. "Du bist spät dran, Kind. Ich wollte gerade nachsehen, wo Du steckst. Ich dachte schon, Du wärst vielleicht in der Nacht geflohen." Als würde sie das jemals tun!

"Ich werde die Weiße Burg erst dann wieder verlassen, wenn auch Du mich als Amyrlin anerkennst, Silviarin." Sie sagte das in ganz selbstverständlichem Tonfall, den sie auch so meinte. Bevor Egwene eine Erklärung für ihre Verspätung hinzufügen konnte, warf Silviarin einen Blick in den abgesehen von einigen Diener und einer Novizin verwaisten Korridor, trat heraus und fragte misstrauisch "Warum bist Du allein?"

"Ich bin von meinem Zimmer hierher gerannt, weil ich so spät dran war, Tochter." erklärte sie. Ihr Atem ging nur wenig schneller als gewöhnlich und gleichmäßig und schien ihre Worte Lügen zu strafen, aber seit ihrer Zeit bei den Aiel hatte sie sich bemüht, die so mühsam erworbene körperliche Fitness nicht wieder zu verlieren. Sie ließ ein kurzes Lächeln aufblitzen und fügte hinzu "Das war das erste Mal, dass ich gerannt bin, seit ich wieder Zuhause bin."

Die Herrin der Novizinnen runzelte die Stirn, doch bevor sie noch etwas sagen konnte, zogen hallende Schritte ihre Aufmerksamkeit auf sich, als Jezrail schnaufend und mit hoher Geschwindigkeit um eine Ecke des Korridors bog. Die Rote wurde langsamer, als sie Egwene und Silviarin erblickte, und blieb dann stehen. Die Diener und die Novizin warfen ihr neugierige Blicke zu, denn sie atmete heftig ein und aus und ihr Kopf hatte eine deutlich rote Färbung angenommen. Sie hatte auch nicht wirklich damit gerechnet, dass sich Pevara diese Blöße gab.

Egwene ging einfach an der Aes Sedai vorbei in das ihr leider nur zu vertraute Zimmer. Sie warf einen Blick in den großen Spiegel und stellte zufrieden fest, dass sie ein perfektes Bild ruhiger Gelassenheit bot. Die Herrin der Novizinnen schüttelte leicht den Kopf, als sie sich vom Korridor abwandte, ebenfalls hereintrat und die Tür hinter sich schloss. Sie erwähnte den Vorfall mit keinem Wort und zeigte deutlich weniger Enthusiasmus als bei anderen Gelegenheiten, was ein echter Segen war. Vermutlich nahm sie an, die Angst vor der bevorstehenden Züchtigung hätte sie zur Eile angetrieben, aber sie würde schon noch eine Gelegenheit bekommen, das klarzustellen. Wenigstens war sie jetzt wieder im üblichen Zeitplan.

Sie hatte kaum ihr Frühstück beendet, als Pevara auch schon mit langen Schritten den Saal der Novizinnen betrat. Sie erhob sich und ging ihr entgegen, wobei sie Nicola ein beruhigendes Lächeln schenkte. Sie glaubte nicht, dass sie am Mittagessen teilnehmen würde und auf diese Art wollte sie ihr mitteilen, dass dies kein Grund zur Sorge war. Nicola würde hoffentlich verstehen und die übrigen Novizinnen beruhigen können.

"Wir müssen nach oben" hauchte sie leise, als die Sitzende direkt vor ihr stehenblieb. Diese sagte laut. "Du kommst mit mir, Kind" und wandte sich mit raschen Schritten wieder zur Tür. Egwene folgte ihr in angemessenem Tempo. Nicht überrascht, vor der Tür keinen weiteren Roten Schwestern zu begegnen, nickte sie anerkennend, als Pevara sich in Richtung der Treppen für Dienstboten wandte und nicht zu den Haupttreppen. Die Aes Sedai kommentierte dies mit einem kurzen Stirnrunzeln, ging aber weiter, ohne Worte darüber zu verlieren.

Sobald sie auf der Treppe allein waren, fragte sie die Sitzende "Warum warst Du heute morgen für meinen Wachdienst eingeteilt, Tochter?" aber die einzige Antwort war ein weiteres Stirnrunzeln.

"Du hast recht, wir sollten unseren Atem lieber sparen. Wir haben sicherlich einen anstrengenden Weg vor uns." sagte sie darauf mit einem weiteren anerkennenden Nicken. Die Sitzende schnaubte, reagierte aber sonst nicht weiter auf das Gesagte. Egwene war gelinde überrascht, weiterhin mit ihrer Dreistigkeit durchzukommen, aber auch hocherfreut. Sie musste später noch ein unvermeidliches Wagnis eingehen und es war besser, wenn sie frei sprechen konnte.

Immer weiter ging es hinauf und nur gelegentlich begegnete ihnen ein Diener oder eine Dienstmagd. Als sie das letzte Stockwerk passiert hatten, in dem sich Räumlichkeiten der Ajahs befanden, hörte auch das auf, aber sie schritt trotzdem schweigend weiter die Stufen hinauf. Wenn sie bereit war, würde Pevara von sich aus das Wort ergreifen.

Sie konnten nicht mehr als ein Drittel der Höhe erreicht haben, als Pevara schließlich mitten auf einem staubigen Treppenabsatz einfach stehenblieb.

"Wie weit müssen wir hinauf?"

"Webe einen Lauschschutz, Pevara. Binde ihn nicht ab, sondern halte ihn fest," fügte sie hinzu "ein abgebundener Schild kann durchdrungen werden."

Pevara zwinkerte ungläubig, aber sie tat wie geheißen. Es gab keinen Einspruch, dass sie kurz die Eine Macht ergriffen hatte, um sich davon zu überzeugen. Sobald der Schild stand fuhr sie fort.

"Da es offensichtlich ist, dass ich über mehr Ausdauer als Du verfüge, ist es sicherlich sinnvoll, wenn ich das Seil trage." Sie ließ die andere nicht zu Wort kommen, als diese mit betonter Ruhe einen Beutel unter ihrem Kleid hervorzog und ihn ihr übergab, sondern sprach schnell weiter. "Wir müssen ganz nach oben, auf die Aussichtsplattform. Dort kannst Du mich mit Hilfe der Macht dorthin tragen, wo der Eingang versteckt ist. Da ich selbst leider nur einen Bruchteil meiner gewöhnlichen Stärke habe, wirst Du allerdings dorthin klettern müssen, deshalb das Seil. Ich nehme an, Du hast genug von diesem widerlichen Gebräu mitgebracht, dass es für drei Tage reicht." Sie schüttelte demonstrativ den Beutel, den sie in der Hand hielt und deutlich war ein Gluckern zu hören.

Sie hob eine Braue und unterdrückte mit aller Kraft ein breites Grinsen. Sie hielt sich an die drei Eide, aber es war äußerst knapp. Die Augen ihres Gegenübers weiteten sich verblüfft und ihr Stirnrunzeln war das intensivste, das sie bisher gezeigt hatte. Tatsächlich war das Seil ursprünglich für sie selbst gedacht gewesen und wenn alles glattging, würde es auch nach ihrem sorgfältig durchdachten Plan dazu kommen.

"Mit meiner vollen Stärke könnte ich auch Deine Erschöpfung lindern, damit wir schneller vorankommen, Tochter." Pevara öffnete den Mund, um sie zu unterbrechen, aber sie fuhr einfach mit ruhiger Stimme fort "Solltest Du tatsächlich erwägen, mir diesen grässlichen Trank für einen Morgen zu ersparen, hast Du natürlich mein Wort, dass ich mich auf dem Rückweg nicht weigern werde, ihn zu trinken. Sicherlich gibt es in der Burg genügend Aufzeichnungen, die die Unbedenklichkeit des Tranks bezüglich eventueller Nachwirkungen belegen, so dass es unbedenklich ist, ihn Novizinnen zu verabreichen." Erst jetzt bemühte sie sich um ein leichtes, hoffnungsvolles Lächeln. Sie hoffte, dass das Herz der Burg die Rote weit genug vom Trank ablenken konnte, dass es ihr gelang, ihn dort zurückzulassen. Sie würde sich nicht weigern, ihn zu trinken, weil es auf dem Rückweg keinen Trank mehr gäbe, den sie hätte trinken können – wenn es denn klappte.

Eine knappe Stunde später waren sie nicht mehr weit von der Plattform entfernt und befanden sich auf der Elaidas Quartier gegenüber liegenden Seite des Turms und etwa auf gleicher Höhe. Egwene nahm bewusst viel weniger Saidar auf, als sie konnte und sagte wahrheitsgemäß "Das reicht nicht mal, um Deine Erschöpfung zu lindern, Tochter." bevor sie die Macht wieder losließ. Die Aes Sedai nickte mürrisch und rechnete offenbar damit, am Ende doch noch das Seil benutzen zu müssen.

Sie verschnauften schweigend einige Minuten, bevor Egwene Pevara abschirmte. Wie erwartet, blieb diese Maßnahme vorerst unentdeckt. Sie war zwar noch immer höchstens halb so stark wie die Aes Sedai, aber ein gehaltener Schild war immer schwerer zu durchbrechen, selbst wenn man stärker war. Sie holte tief Luft, jetzt wurde es ernst.

"Bevor ich Dir das Herz der Burg zeige, muss ich auf einigen Sicherheitsmaßnahmen bestehen. Ich weiß zwar, Tochter, dass ich selbst im Licht wandele, aber ich muss absolut sichergehen, dass das auch bei Dir der Fall ist. Da ich davon ausgehe, dass Du nicht im Traum auf den Gedanken gekommen bist, auch den Eidstab mitzubringen, gibt es nur eine Möglichkeit, dies zu gewährleisten. Nach dem Burggesetz ist es untersagt, dass eine Aes Sedai Zwang anwendet, aber es gibt Ausnahmen, die den Amyrlin-Sitz betreffen: Unter dem Kriegsrecht - und es besteht sicherlich kein Zweifel, dass das Kriegsrecht gegenwärtig Anwendung findet - gibt es einige Situationen, in denen die Amyrlin selbst Zwang benutzen darf, und dies auch anderen gestatten kann. Eine solche Ausnahme betrifft den Verdacht, jemand sei ein Schattenfreund. Auch wenn dieser Verdacht aus meiner Sicht nicht besteht, ist es sicherlich mit dem Burggesetz vereinbar, wenn ich auf freiwilliger Basis den Zwang bei Dir anwende, um sicherzugehen. Direkt im Anschluss werde ich Kraft meiner Befugnis als Amyrlin auch Dir die Gelegenheit geben, Dich auf die gleiche Weise davon zu überzeugen, dass ich im Licht wandle."

Kaum dass sie ihre sorgfältig vorbereitete Ansprache begonnen hatte, spürte sie, wie Pevara mit voller Kraft versuchte, Saidar zu ergreifen. Die Augen der Aes Sedai weiteten sich, als sie ihren Schild bemerkte. Abgebundene Stränge aus Luft hielten sie gefesselt, wo sie saß. Mit beruhigender Stimme machte Egwene weiter, während sie mit aller Kraft den Schild festhielt.

"Wenn Du im Licht wandelst, hast Du nichts zu befürchten, Tochter. Ich werde Dir nur die eine Frage stellen, ob Du wahrhaftig im Licht wandelst, und auch Du wirst nur für diese eine Frage die Erlaubnis bekommen, Zwang bei mir anzuwenden." Die Versuche, Saidar zu erreichen, hörten auf, wie sie erleichtert feststellte, es wäre ihr schwerlich gelungen, eine Erklärung für Pevaras plötzliches Verschwinden zu finden. Jetzt deutete nur noch ein leichter Druck darauf hin, dass sie den Schild nach wie vor erspürte. Die Rote Sitzende wirkte wieder ruhiger und gewann ihre gewohnte Haltung zurück. Ihr stechender Blick schien sie jedoch durchbohren zu wollen. "Da ich bereit bin, mich vor dem Saal der Burg für diese Entscheidung zu rechtfertigen, gibt es meiner Ansicht nach keinen Grund, der aus Deiner Sicht dagegen sprechen könnte." Sie ließ plötzlich ihre Stimme hart und unnachgiebig klingen. "Solltest Du Dich jedoch weigern, werde ich dennoch Zwang bei Dir einsetzen, da dann der begründete Verdacht besteht, dass Du eine Schwarze Ajah bist. Auch für diese Entscheidung würde ich mich selbstverständlich vor dem Saal der Burg verantworten müssen, aber ich gehe davon aus..."

"Tu es!" unterbrach Pevara sie grimmig und sie zögerte nicht. Sie hätte nicht gedacht, dass es so leicht sein würde, die Sitzende zu überzeugen, nahm das aber als gutes Zeichen.

Sorgfältig wob sie das Gewebe, welches sie von Moghedien gelernt hatte. Den Schild und die Fesseln ließ sie fallen, als sie fertig war, und sofort kniete Pevara vor ihr nieder und blickte bewundernd zu ihr auf. Sie fühlte sich schmutzig, aber es war der einzige Weg. Schnell stellte sie die Frage und war unendlich erleichtert, als Pevara heftig nickte und bejahte. Vorsichtig zog sie sich zurück, denn sie wollte nicht, dass die Erinnerung vielleicht verblasste.

Die Aes Sedai zog fröstelnd ihre Stola zusammen und setzte sich mit dem Rücken zur Wand wieder normal hin. Es war wenig überraschend, dass sie Saidar jetzt mit aller Kraft umarmt hatte. "Das war entsetzlich! Wo habt Ihr das nur gelernt?"

Egwene ging nicht darauf ein, sie war fast so erschüttert wie die andere. War es ein Nachhall des Zwanges gewesen, der die respektvolle Anrede verursacht hatte? Sie hoffte nicht. Statt darauf einzugehen, sagte sie jedoch nur "Jetzt Du, Tochter."

"Ich glaube Dir auch so." sagte die Frau und wurde sichtbar blasser. Sie wandte ihren Blick ab und zog erneut mit verkrampften Händen an ihrer Stola.

"Das spielt keine Rolle, Du musst es sicher wissen und nicht bloß glauben. Du hast die ausdrückliche Erlaubnis der Amyrlin, Zwang für diese eine Frage einzusetzen. Tu es, Pevara, und verschwende nicht noch mehr Zeit." Egwene nickte auffordernd und rückte näher heran.

Nur sehr zögernd streckte die Rote ihre Hände aus und legte sie an ihre Schläfen. Ihre Finger waren eiskalt. Dann trübte sich ihre Wahrnehmung und ihr wurde schwindelig.

Als nächstes nahm Pevara ihre Hände fort und ließ Saidar fahren. Egwene erinnerte sich an keine Frage, aber da die Frau im Licht wandelte, wusste sie vielleicht nicht, wie man die Erinnerungen nicht beschädigte. Das Schwindelgefühl verging nur langsam und sie schwankte etwas, als sie sich erhob. Dennoch lächelte sie, als sie nach Saidar griff und rasch die Stirn Pevaras berührte, um sie von ihrer Erschöpfung zu befreien. Dann grinste sie breit und rief: "Wer zu erst oben ist!" bevor sie losrannte.

Sie hörte unterdrückte Flüche hinter sich, achtete aber nicht darauf. Sie hatte das Seil und würde mit einigem Abstand vor der Aes Sedai oben ankommen. Ihr Plan hatte bisher wirklich großartig funktioniert!



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